In der Theorie besitzen die europäischen Staaten, egal ob in der EU oder nicht, diese Souveränität auch noch. In der Praxis gibt es diese Souveränität nicht mehr. Meist geht es dann darum, ob man sich eher auf die Seite der Russen oder der Amerikaner schlägt. Eine echte europäische Außenpolitik ist nach wie vor nicht zu erkennen. Die Hohe Vertreterin der gemeinsamen EU-Außen- und Sicherheitspolitik ist nach wie vor von der Zustimmung der Mitgliedsländer abhängig.
Dabei ist die europäische Außenpolitik (natürlich immer in Verbindung mit einer europäischen Sicherheitspolitik) eines der Kernelemente der ursprünglichen Idee der europäischen Einigung, wie sie von Richard Coudenhove-Kalergi nach dem Ersten Weltkrieg im Paneuropa-Konzept formuliert wurde. Ein in Kleinstaaten zersplittertes Europa, so seine Analyse, würde zum Spielball außereuropäischer Mächte werden. Er nannte die USA und Russland, die dann die Geschicke Europas bestimmen würden. Eine Analyse, die heute nach wie vor richtig ist.
Zu dieser europäischen Außenpolitik gehört auch eine klare Erweiterungspolitik. Nimmt man die europäische Einigung ernst, dann muss sie allen europäischen Ländern offen stehen. Wie sehr die europäische Strategie fehlt, sieht man an zwei Beispielen ganz deutlich. Da ist einerseits Südosteuropa, im EU-Jargon Westbalkan genannt. Vor fast 15 Jahren hat man den Ländern des ehemaligen Jugoslawien und Albanien im sogenannten Thessaloniki-Prozess eine Beitrittsperspektive eröffnet. Seither aber gibt es Stillstand. Der makedonische Staatspräsident Gjorge Ivanov sprach deshalb beim wiedereröffneten Paneuropakongress 2016 in Wien von einer drohenden Balkanisierung der EU, statt einer erhofften Europäisierung des Balkan. Die Lücke, die die EU durch ihre Interessenslosigkeit am Balkan öffnet, wird von anderen Mächten mehr und mehr gefüllt. Der Griff Moskaus in die Region über Serbien ist nicht zu übersehen. Ebenso versucht die Türkei über die moslemischen Gemeinden der Region oder direkt über politische Intervention wieder ihren Fuß auf den Balkan zu setzen.
Das zweite Beispiel ist die Ukraine. Obwohl Russland im Budapester Memorandum die Grenzen der Ukraine garantiert hat, annektierte Moskau zuerst einmal die Krim, um danach auch noch in der Ostukraine einzumarschieren. Die EU war völlig überrascht. Erst nach dem Druck aus Washington konnte man sich auf wirtschaftliche Maßnahmen gegen die Verantwortlichen Aggressoren in Moskau einigen. Bei den immer wieder aufkommenden Diskussionen, ob denn die „Wirtschaftssanktionen“ gegen Russland sinnvoll seien, und nicht der eigenen Wirtschaft schaden würden, wird eines gerne vergessen: die Alternative zu derartigen Sanktionen wären militärische Maßnahmen. Es sei denn, man will die Aggression Moskaus einfach nur zur Kenntnis nehmen.
Keiner der europäischen Nationalstaaten hat das Gewicht und die Möglichkeit, in diesen Fragen alleine in einer entscheidenden Rolle aufzutreten. Die EU hätte als Ganzes aber das entsprechende Gewicht. Die theoretische Souveränität der europäischen Nationalstaaten in der Außenpolitik könnte auf EU-Ebene zu einer echten Souveränität werden, die auch zu praktischer Handlungsfähigkeit führt.
Veröffentlicht am 6. Oktober 2017.